Übersetzung: Interview von Notes from Below mit dem Kolinko Kollektiv

Fragen und Antworten mit den AutorInnen des Hotlines Buchs

Interview mit dem Kolinko Kollektiv von Jamie Woodcock

(Ins Deutsche übersetzt von den amici della conricerca – Leipzig. Das englische Originalinterview findet sich in Ausgabe #4.3 „The Call Centre Seen from Below“ der Notes from Below)

In diesem Interview sprach Jamie mit ehemaligen Mitgliedern des Kolinko Kollektivs, welches von der zweiten Hälfte der 1990er Jahre bis in die erste Hälfte der 2000er existierte. Ihre Hotlines Untersuchung liegt in Buchform vor und kann online nachgelesen werden.


JW: Darf ich mit der Frage beginnen, warum ihr euch dazu entschieden habt das Projekt einer militanten Untersuchung zu starten? Warum habt ihr euch für Callcenter entschieden?

K: Drei Aspekte sind wichtig an dieser Stelle genannt zu werden: Die Begrenztheit der radikalen Linken und unser Versuch revolutionäre Politik wieder mit Klassenkampf zu verbinden; die Erfahrungen militanter Untersuchung – oder conricerca – als ein hilfreiches Werkzeug um das zu tun; und Callcenter als die neuen Orte von Massenarbeit und von potenziellen Arbeitskämpfen.

Während der 90er Jahre hat sich die radikale Linke in Deutschland selbst in den Mainstream integriert, indem sie damit anfing die ArbeiterInnen-Klasse zu verachten. Ihr Fokus lag auf dem Schmieden von antifaschistischen „demokratischen“ Bündnissen und Themen wie moralische Überlegenheit als „Antideutsche“ zu besetzen. Postmodernes Denken“, „Post-Industrialismus“ und Identitätspolitik waren ideologische Waffen, um diese Integration zu erleichtern. Ein paar Gruppen innerhalb der ehemaligen autonomen Linken versuchten zwar weiterhin in Verbindung mit der sozialen Realität zu bleiben, aber sie haben dies durch das Nachplappern der „sozialen Frage“ in einer eher paternalistischen und liberalen Art und Weise getan: Die gespaltenen ArbeiterInnen sollten sich um die transnationalen Forderungen für ein bedingungsloses Grundeinkommen, universelle Rechte oder electoral municipalism (Anm. d. Übers.: Was der Begriff übersetzt bedeuten könnte, wird an dieser Stelle nicht ganz klar) herum formieren. Die meisten Gruppen hatten einen äußerlichen und schematischen Ansatz, um sich auf die soziale Realität zu beziehen.

Für uns war die Mit-Untersuchung der erste Schritt, um revolutionäre Politik neu zu fundieren. Wir haben sie nicht als soziologisches Unterfangen gesehen, sondern als experimentelles Bestreben, um eine fruchtbare Beziehung zwischen Revolutionären und der Selbstorganisierung der ArbeiterInnen neu zu etablieren. Wir wollten die spezifischen Bedingungen verstehen, um in der Lage zu sein eine politische Perspektive zu finden und zu präsentieren und Schritte vorzuschlagen, die dabei über einen einzelnen Betrieb oder einen einzelnen Sektor hinausgehen.

Manche von uns hatten bereits für eine gewisse Zeit die Geschichte und die Werkzeuge der italienischen, marxistischen Strömung des Operaismus diskutiert und wir waren der Meinung, dass eine militante Untersuchung (conricerca oder „Mit-Untersuchung“) eine gute Methode sein könne, um die Situation der arbeitenden Klasse zu verstehen und um in ihren Kämpfen zu intervenieren. Nach bisherigen Versuchen mit solchen militanten Untersuchungen – zum Beispiel auf Baustellen – hatten wir bereits ein paar Erfahrungen gesammelt. Ein paar von uns waren zu der Zeit arbeitslos und wir haben nach Jobs Ausschau gehalten, wo wir eine gemeinsame Untersuchung starten konnten. In unserer Region sprangen die Callcenter zu der Zeit wie Pilze aus dem Boden, während der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, daher entschieden wir uns da reinzugehen.

Wir haben uns außerdem auf Callcenter konzentriert, weil sie ein Ort der Neuorganisierung von Büroarbeit waren: Zunächst schafften die Callcenter die ehemaligen Fähigkeiten und Qualifikationen der Büroangestellten ab und dehnten diese auf eine größere Zahl von eher „unqualifizierten“ ArbeiterInnen aus, die weniger dazu in der Lage waren einen „Berufsstolz“ oder andere Formen von Borniertheit aufgrund ihrer Qualifikationen zu entwickeln; zweitens haben Callcenter die Arbeitskräfte neu konzentriert, zum Beispiel haben sie hunderte von ArbeiterInnen gemeinsam und zur gleichen Zeit in ein Büro gesteckt, während der Mainstream dir einreden wollte, dass Computer und Internet zwangsläufig dazu führen würden, dass die Leute isoliert von Zuhause aus arbeiten; drittens haben Callcenter die Arbeiterinnen über Grenzen hinaus miteinander sozialisiert und verbunden. Wir beobachteten ähnliche Erfahrungen von Arbeit und Ausbeutung von einer größtenteils jungen und geschlechtlich durchmischten ArbeiterInnenschaft rund um die Welt. Dies gab uns die hoffnungsvolle Erwartung eines natürlichen, grenzübergreifenden Austauschs und der Solidarität, obwohl wir bereits die problematische Rolle sehen konnten, die die „nationalen“ Gewerkschaften spielten.

Bereits frühzeitig haben wir ebenso erste Zeichen von Widerstand beobachtet, zum Beispiel Streiks von Callcenter ArbeiterInnen im Bankensektor. Wir wollten diese Entwicklungen verstehen und intervenieren – als ein kleines Kollektiv von etwa 10 Personen entschieden wir uns dazu unsere Bemühungen auf einen bestimmten Sektor zu beschränken, um eine Überlastung unserer Kapazitäten zu vermeiden. Dadurch haben die meisten von uns Jobs in Callcentern angenommen.

JW: Wie würdet ihr den Prozess der Untersuchung beschreiben, den ihr angewendet habt? Könnt ihr uns ein wenig mehr über die Fragebögen und Flugblätter erzählen?

K: Die Fragebögen waren zuallererst eine Orientierung für unsere eigenen Diskussionen und Arbeitsberichte. Wir haben ausschließlich vertraute KollegInnen und FreundInnen interviewt – es war kein Versuch, um Massenbefragungen durchzuführen. Das soll aber nicht heißen, dass Fragebögen nicht vermehrt eingesetzt werden könnten.

Die Fragebögen bezogen sich hauptsächlich auf konkrete Probleme in einzelnen Callcentern. Sie haben für mehr Aufruf gesorgt. Die vier Flugblätter waren quasi didaktisch, denn wir entschieden uns dazu die vier Hauptaspekte von Ausbeutung zu thematisieren: die Verlängerung des Arbeitstages, die Intensivierung der Arbeit, der Mythos der Güte und die Realität der Entfremdung sowie der Kampf gegen die Chefs und das Problem mit der (gewerkschaftlichen) Vertretung. Wir haben versucht diese allgemeinen Themen mit der konkreten Realität in den Callcentern in Verbindung zu bringen. Wir haben auch Reportagen und Berichte hinzugefügt, jedoch war der thematische Rahmen eher starr.

Im Nachhinein betrachtet hätten wir die Publikationen mehr als offene Plattform für den Austausch von Neuigkeiten zwischen Callcenter Agents aufziehen können, was dazu hätte führen können, dass Leute ermutigt gewesen wären mehr Material einzusenden oder sich selbst zu beteiligen. Unsere eigene Erfahrung in dieser Hinsicht war dürftig: Wir hatten zuvor an verschiedenen „Newslettern“ oder Flugblatt-Versuchen der ArbeiterInnenklasse mitgewirkt, hauptsächlich als Teil des breiter aufgestellten Wildcat-Kollektivs in der BRD, jedoch hatten unsere Kreise keine wirkliche Erfahrung mit konsistenten Publikationen und Organisierungsversuchen der ArbeiterInnenklasse. Dennoch war es interessant zu sehen wie die KollegInnen die Rundschreiben genutzt haben, denn sie waren eine Informationsquelle und haben Gespräche über die Arbeitsbedingungen angeregt. Da sie nicht zur Bildung einer Organisation verwendet wurden, haben wir sie nicht sehr lange herausgebracht. Hätten wir das gemacht, hätte solch ein Rundschreiben vielleicht mehr aktive ArbeiterInnen oder jene, die gerne „etwas gemacht hätten“, stärker zusammengebracht.

JW: Der Kontext der Untersuchung könnte als „kalt“ bzw. als ohne offenen Kampf beschrieben werden. Was sind die Herausforderungen oder Chancen bei der Durchführung einer solchen Untersuchung anstelle eines „heißen“ (oder wenigstens „hitzigeren“) Kontextes?

K: Es gab ein paar Auseinandersetzungen in den Callcentern in unserer Region – also waren die Umstände zumindest „lauwarm“. Aber ja, unser Ansatz war damals der: Wir können Kämpfe nicht „lostreten“, also lassen wir uns mittreiben und lernen aus ihnen. Wir haben uns damals nicht als „Organizer“ gesehen und, nochmal im Nachhinein betrachtet, wir hätten vielleicht eine aktivere Form der Intervention und Organisierung versuchen sollen. Jedoch wird jede Form des Organizing (Anm. d. Übers.: oder eher der Organisierung?) begrenzte Wirkung haben, sofern es keinen Kampf gibt – oder zumindest keine tiefer gehende Wut innerhalb der ArbeiterInnenschaft.

JW: Seid ihr der Meinung, dass es eine Spannung zwischen Forschung und Organisierung (oder Intervention) bei einem solchen Projekt gibt? Wie kann es aufgelöst werden?

K: Allgemein gibt es keine Spannung zwischen Untersuchung und Organisierung, wenn das Erforschen von den ArbeiterInnen selbst gemacht wird – Untersuchung ist eine kontinuierliche Voraussetzung und eine Organisierungsversuch an sich. Spannung existiert, wenn die Forschenden als Externe mit ihren eigenen Zielen auftreten – zum Beispiel AkademikerInnen oder VertreterInnen von (gewerkschaftlichen) Organisationen, die eigene Interessen unabhängig von denen der ArbeiterInnen entwickeln.

Zu der damaligen Zeit waren wir überzeugt davon, dass wir uns nicht an den Mainstream-Gewerkschaften und derm legalen Korsett von Betriebsräten beteiligen wollten. Und zu der Zeit waren „Massen“-Gewerkschaften und Gewerkschaftsaktivismus (Anm. d. Übers.: Im Original ist von syndicalism die Rede) deutlich weniger verbreitet als heutzutage. Die einzig ernsthaften Bemühungen in dieser Hinsicht, die wir beobachten konnten, kamen von Basisgewerkschaften aus Italien. Wir hätten versuchen können unsere Bemühungen stärker zu formalisieren und uns als „Callcenter ArbeiterInnen-Organisation“ darstellen können, doch in den meisten Situationen wäre dieser Schritt aufgesetzt gewesen. Wir befanden uns damals noch auf der Ebene des Vertrauensaufbaus und der Bildung informeller Netzwerke zwischen den KollegInnen und das haben wir soweit vorangetrieben wie wir nur konnten.

JW: Wir von Notes from Below analysieren die Klassenzusammensetzung durch die technische, politische als auch die integrierende soziale Zusammensetzung. Wir definieren soziale Zusammensetzung als die spezifische, materielle Organisierung der ArbeiterInnen zu einer Klassengesellschaft durch die sozialen Beziehungen von Konsumtion und Reproduktion. Ist das ein Aspekt, den ihr während eurer Callcenter Untersuchungen berücksichtigt habt?

K: Die „soziale Zusammensetzung“ außerhalb der Arbeitsplätze und ihrer sozialen Antagonismen kann ganz schön individualistisch oder trennend sein, besonders wenn es um solche Konzepte wie „KonsumentInnen“ oder „BürgerInnen“ geht. Nach wie vor gibt es eine Notwendigkeit den Kampf in so etwas wie der „proletarischen Sphäre“ zu organisieren: Mieter-Organisationen, ArbeiterInnenbildung und der Frauenkampf gegen Sexismus.

Zu der Zeit besaßen viele Callcenter ArbeiterInnen in Städten wie Berlin einen studentischen Hintergrund – und jeder Organisierungsversuch hätte diese Doppelexistenz berücksichtigen und sein Potenzial zutage fördern müssen, indem eine Dynamik zwischen studentischen Kämpfen und denen auf Arbeit entsteht. Im Ruhrgebiet, wo wir gelebt haben, waren die Belegschaften der Callcenter durchmischter, darunter StudentInnen, ArbeiterInnen mit Joberfahrungen in Büros und ehemaligen IndustriearbeiterInnen. Vielleicht hätten wir die vorherigen Arbeitserfahrungen von manchen dieser KollegInnen stärker ansprechen können und schauen, ob sie noch immer Kontakte und Engagement in eher traditionellen Arbeits(-kampf)bereichen besaßen. Außerdem sind wir großenteils darin gescheitert die Frage anzusprechen, wie unsere alleinerziehenden Kolleginnen ihr Leben abseits der Arbeit managen mussten.

Dennoch bestand unser Vorschlag am Ende unseres hotlines Buchs – „proletarische Zirkelzu gründen – darin, sich mit der Tatsache zu befassen, dass die Organisierung der ArbeiterInnenklasse alle Fragen des Lebens umfassen sollte, von den Lebensverhältnissen bis hin zu der Frage, wie man mit Krankheit oder dem hohen Alter umgeht. Zu der Zeit unserer Callcenter Untersuchung hatten wir einfach keine Kapazitäten, um auf parallele Strukturen von Arbeitsplatzaktivitäten und „solidarischen Netzwerken“ zu zielen.

JW: Hotlines besitzt viele selbstkritische Untertöne und gibt den LeserInnen Einblicke in das, was funktioniert hat als auch in das was nicht funktioniert hat. Könntet ihr uns ein wenig mehr von dem erzählen, was ihr von diesem Prozess gelernt habt?

K: Naja, Selbstkritik und die Fähigkeit die Kritik von anderen anzunehmen ist die Voraussetzung um vorwärts zu kommen. Offensichtlich haben wir damals viele Dinge ausprobiert und Fehler gemacht, aber wir wollten unsere Tätigkeiten nicht als die beste Lösung für alles oder die Arbeitskämpfe in Callcentern als den zentralen Kampf oder Klassenzusammensetzung darstellen. Dennoch wurden wir damals ebenso von Gruppen attackiert, die das was wir gemacht haben als Überschreiten einer heiligen politischen Linie gesehen haben – zu viel „Intervention“ oder nicht genug „Organisierung“, abhängig von dem politischen Dogma, das dahinter steckte.

In Bezug auf die Callcenter haben wir gelernt, dass sie zwar manchmal hunderte von ArbeiterInnen beschäftigen, aber dass sie das noch lange nicht zu Fabriken macht. Das Fehlen einer materiellen Kooperation zwischen den ArbeiterInnen in den Callcentern mag einer der Hauptgründe dafür sein, warum wir kein Aufkommen von ArbeiterInnenmacht und Selbstbewusstsein beobachtet haben. Im Nachhinein betrachtet hätten wir vielleicht selbstbewusster sein müssen, um irgendwelche Formen von organisatorischen Strukturen vorzuschlagen wie etwa regionale Callcenter ArbeiterInnen Treffen oder Gruppen, die über einen einzelnen Arbeitsplatz hinausgehen – oder zumindest hätten wir damit zumindest experimentieren können. Andererseits waren wir in der damaligen Zeit als Gruppe auch nicht stark genug was die aktiven Mitglieder anbelangt, um uns mehr in anderen Kämpfen in der Region einzubringen, zum Beispiel die Kämpfe der ArbeiterInnen bei GM (Anm. d. Übers.: General Motors). Während der Callcenter Untersuchung waren wir sehr mit Lohnarbeit und der politischen Tätigkeit beschäftigt, sodass wir kaum Energie für noch mehr hatten.

JW: In hotlines habt ihr revolutionäre Zirkel zum Durchführen von Untersuchungen und der Möglichkeit des gegenseitigen Austauschs zwischen ihnen vorgeschlagen. Ist daraus irgendwas geworden?

K: Die Untersuchung hat uns mit Gruppen in ganz Europa in Kontakt gebracht und sie hat die Etablierung regelmäßiger Sommertreffen von gleichgesinnten AktivistInnen seit den frühen 2000ern erleichtert. Unsere Untersuchung war kein Auslöser für irgendeine größere Bewegung, aber sie scheint verschiedene Gruppen in verschiedenen Ländern dazu gebracht zu haben militante Untersuchungen zu diskutieren und anzuwenden. Sogar heute noch, etwa 20 Jahre später, werden wir noch immer zur Untersuchung gefragt und das hotlines Buch wird von anderen als Beispiel genannt. Es war ebenfalls wichtig, dass wir die primären Erfahrungen und Resultate mit ins Buch nehmen – etwas, das viele Gruppen nach der Durchführung einer Intervention nicht hinbekommen. Das Buch wurde ein paar Jahre später sogar mit einer neuen Einleitung in Indien neu aufgelegt und ein paar StudentInnen führten vor Ort ein paar Untersuchungen im lokalen Callcenter Sektor im kleinen Maßstab durch.

Was wir vermutlich nicht deutlich genug gemacht haben ist, dass solch eine Untersuchung nicht einfach „ein Projekt“ ist – in dem Sinne wie viele linke Gruppen sich „Projekte“ aussuchen, manchmal ziemlich beliebig – sondern ein Schritt hin zu der Bildung einer politischen Klassenorganisation, die auf einem gewissen politischen Verständnis und moralischen Haltung beruht. Wir hofften, mit unserer Erfahrung und unseren neuen Kontakten zu GenossInnen in ganz Europa bei der Neuformierung der klassenkämpferischen Linken beitragen zu können. Aus diesem Grund veröffentlichten wir den Newsletter prol-position, der Artikel und Übersetzungen von Arbeitskämpfen ohne Beschränkung auf nur eine Branche enthielt.

Wie dem auch sei, weder die Sommertreffen noch der Newsletter konnten die drei Haupthindernisse überwinden, die das revolutionäre Milieu voneinander trennt: die zunehmende Professionalisierung und Akademisierung der Linken; die laissez-faire- bzw. Hände weg!-Haltung gegenüber Arbeitskämpfen von manchen linken Gruppen, die Angst haben das Proletariat zu verderben; und die formalistische Haltung, die versucht die Arbeitskämpfe in bereits maßgeschneiderte organisatorische Strukturen zu zwängen, jedoch nicht die unterschiedlichen Potenziale analysiert, die der Produktionsprozess für die Versuche von ArbeiterInnenorganisierung mit sich bringt.

JW: Wie hat sich die Klassenzusammensetzung seit dem Erscheinen des hotlines Buchs eurer Meinung nach verändert? Wenn ihr eine militante Untersuchung heutzutage starten würdet, in welchem Bereich würdet ihr anfangen zu arbeiten?

K: Nicht zufällig arbeiten die meisten von uns jetzt in oder im Umfeld der Logistikbranche oder sind in ihr aktiv: als Flughafen- oder Lagerhaus- oder Speditions-ArbeiterInnen oder als UnterstüzerInnen von Organisierungsbemühungen bei Amazon. Die Kämpfe der LogistikarbeiterInnen in Italien und in anderen Regionen haben uns gezeigt, dass der Prozess der Neu-Konzentrierung von modernen Liefer- und Logistikketten eine materielle Struktur für die Neuentstehung kollektiver ArbeiterInnenmacht bereitstellt. Daher haben wir in Zusammenarbeit mit GenossInnen von anderen Initiativen wie der Wildcat in Deutschland, den Angry Workers in UK und der Inicjatywa Pracownicza (oder ArbeiterInnen-Initiative) in Polen Untersuchungen innerhalb des Logistiksektors vorgeschlagen und durchgeführt.

Wir müssen uns daran erinnern, dass wir unsere Untersuchung gegen Ende der 1990er und Anfang der frühen 2000er durchgeführt haben, also vor dem 11. September, dem „War on Terror“ und der Krise, mit der es 2007 und 2008 losging. Mindestens drei Dinge haben sich seitdem verändert:

Zuerst haben sich die Intensität der Arbeit im Zuge der Krise, Dequalifizierung, Arbeitsgeschwindigkeit und oftmals auch Überwachung und Kontrolle verstärkt. Unsere Jobs in der Logistik sind bloß Beispiele, die Situation hat sich in vielen Betrieben verschlechtert und diese Entwicklung wurde durch einen verstärkten Druck seitens des Sozialstaats und der Verschärfung des Migrationsregimes begleitet.

Zweitens hat es die erneute Globalisierung des Kriegs einfacher gemacht mit ArbeiterInnen über „das System“ zu diskutieren auch wenn wir nicht darin übereinstimmen mögen, was man unter „das System“ zu verstehen habe. Das war in den 1990er Jahren schwieriger. Heutzutage werden unsere Untersuchungen notwendigerweise „politisch“ und global, nicht nur aufgrund des globalen Charakters der Branchen und Migration, sondern durch die globale und politische Dimension der Krise. Daher ist es wichtiger denn je eine klare Linie zwischen der Organisierung der ArbeiterInnenklasse auf der einen Seite und den Versuchen, die Unabhängigkeit der ArbeiterInnen durch parlamentarische Experimente zu kompromittieren, auf der anderen Seite zu ziehen. Die Linke läuft Gefahr die alte und modrige Aufteilung zwischen „ehrlicher Gewerkschaftsarbeit“ für den ökonomischen Kampf und der „parlamentarischen Partei“ fürs Politische zu reproduzieren. Untersuchung bedeutet heutzutage Organisationen aufzubauen, die dazu in der Lage sind, die globalen Verbindungen zwischen Alltagskämpfen und dem Punkt der Überschreitung der zunehmend brüchiger werdenden Schranken offenzulegen, die das System auferlegt – unter anderem Staatsgrenzen, Finanzpolitik, die Unternehmensform (Anm. d. Übers.: „the corporate Form“ im Original), die Kernfamilie und das parlamentarische System.

Drittens haben wir eine globale Welle von Kämpfen in den späten 2000ern und Anfang der 2010er Jahre erlebt, nicht nur die „Platzbesetzungen“, sondern viele Streiks und sogar Streikwellen in vielen Teilen der Erde, unter anderem im globalen Süden. Dies ermöglichte zumindest die Überlegung was möglich sein könnte, wenn man diese Kämpfe verbindet und ihnen einen revolutionären Drang und eine Haltung wie in den späten 1960ern einflößt. Außerdem haben wir seitdem ebenso eine Reihe von Arbeitskämpfen beobachten können, kleinere Alltagskämpfe genauso wie organisierte wilde Streiks und gewerkschaftlich geführte Streiks in verschiedenen Branchen in Europa. Zum Beispiel waren in den letzten 10 Jahren an Flughäfen in Deutschland sämtliche Berufsgruppen von der Putzkraft zum Piloten, Besatzungsmitglieder und Sicherheitspersonal von verschiedenen Unternehmen an Streiks beteiligt. Und die Arbeitsbedingungen sind so mies geworden, sodass viele ArbeiterInnen nach Alternativen Ausschau halten.

Es scheint also als gäbe es derzeit gute Voraussetzungen, um sich an diesen Kämpfen mittels militanten Untersuchungen zu beteiligen – sicherlich eine bessere und vielversprechendere Zeit als die späten 1990er Jahre.